Eine systematische Sammlung von Volksliedern begann in Deutschland 1914 mit der Gründung des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg im Breisgau. Da dort nicht die ganze Sammelarbeit für alle deutschen Regionen geleistet werden konnte, wurden bald regionale Sammelstellen eingerichtet, die dem Deutschen Volksliedarchiv zuarbeiten sollten.[1] Für Pommern übernahm diese Aufgabe seit 1926/1927 das Pommersche Volksliedarchiv in Greifswald. Das Pommersche Volksliedarchiv wurde von einem Ausschuss geleitet, dem führende pommersche Volkskundler angehörten – u.a. Alfred Haas, Robert Holsten, um nur die bekannteren zu nennen.
Als Initiator, Begründer und wissenschaftlicher Mentor des Pommerschen Volksliedarchivs darf Lutz Mackensen gelten, der als Hochschuldozent in den Jahren um 1930 an der Universität Greifswald das Fach Volkskunde mit Pommern als regionalgeschichtlichem Schwerpunkt maßgeblich befördert und etabliert hat. Er schuf nach der Gründung des Pommerschen Volksliedarchivs eine landesweit tätige Arbeitsgruppe, die in den Folgejahren zu einer ausgesprochen regen und erfolgreichen Sammeltätigkeit beitrug. Zunächst wurden die gedruckten Quellen ausgewertet, also ältere Liederbücher und ähnliches. Dabei kamen bereits 1600 pommersche Volkslieder zusammen. Darüber hinaus wurden überall im Land Helfer gewonnen, v.a. Lehrer, die alle Volkslieder, die ihnen bekannt waren, mitteilen und neue sammeln sollten. Anfangs waren es 150 Helfer. Um jenseits des „Gewährsleutesystems“ einen möglichst breiten Kreis anzusprechen, veröffentlichte das Pommersche Volksliedarchiv regelmäßig Aufrufe in bis zu 50 pommerschen Zeitungen, in denen ganz gezielt nach bestimmten Liedern oder wenigstens Liedtypen gefragt wurde. Auf jeden dieser Zeitungsaufrufe gingen bis zu 100 Antworten ein, und zwar aus allen Schichten der Bevölkerung, allen Altersstufen und allen Gegenden Pommerns.[2]
Das Volksliedarchiv besaß von Beginn an zwei Schwerpunkte in seiner Ausrichtung. Zum einen stand die Sammlung, Dokumentation und wissenschaftlich-vergleichende Auswertung von historisch überlieferten wie auch rezenten Volksliedern im Lande im Vordergrund, die durch Veränderungen im Lebensalltag und in der Medienwelt vom Aussterben bedroht waren. Eine solche Dokumentation wurde in benachbarten Ländern, wie in Mecklenburg mit seinem Wossidlo-Archiv bereits seit längerem betrieben. Rasch entwickelte sich auch eine (allerdings immer wieder unterbrochene und insgesamt uneinheitlich gebliebene) Zusammenarbeit mit dem Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg/B.[3]
Damit verbunden war als zweiter Schwerpunkt eine systematische Förderung des Volksgesangs als Bestandteil heimatlicher Kulturpflege. Es gelang im Lauf der Zeit weite Kreise der Bevölkerung zu einer Mitarbeit zu animieren, so dass der Gesamtbestand von Volksliedern, Melodien, Sprüchen und Versen mit ihren örtlich abweichenden Varianten insgesamt ca. 14.000 Stücken aus etwa 450 pommerschen Orten umfasst.
Die publizistische Auswertung des gesammelten Volksliedmaterials erfolgte vor allem durch Hans Engel und Franz Goebel, die 1932 eine kommentierte Sammlung pommerscher Volksballaden veröffentlichten.[4] Die bislang umfangreichste wissenschaftliche Auswertung der Sammlung wurde in Paul Kleins Dissertation über Volkslied und Volkstanz in Pommern 1935 vorgelegt.[5]
Die systematische Sammelarbeit des Pommerschen Volksliedarchivs kam um 1938 fasst völlig zum Erliegen. Nach 1945, wahrscheinlich Anfang der 1950er Jahre wurde das Pommersche Volksliedarchiv von Arno Schmidt, v.a. im Hinblick auf Tänze, ausgewertet. Danach fand eine wissenschaftliche Nutzung nicht mehr statt. Seit dem Ende der 1950er Jahre galt das Pommersche Volksliedarchiv ebenso wie das Pommersche Volkskundearchiv in der Forschung allgemein als „verschollen“. Erst im Jahr 2014 gelang dem Universitätsarchiv die Wiederentdeckung und Bergung beider Sammlungen. 2017 konnten die 18.000 Umfragebelege des „Atlas der Pommerschen Volkskunde“ mit Mitteln des Landes Mecklenburg-Vorpommern digitalisiert und in der Digitalen Bibliothek M-V online verfügbar gemacht werden.[6]
Der Zustand des Pommerschen Volksliedarchivs war bei seiner Wiederauffindung völlig ungeordnet. Nachdem die ursprüngliche Ordnung entsprechend dem vorhandenen Signatursystem 2017 wiederhergestellt war, zeigte sich, dass Teile der Sammlung fehlten und insbesondere in den abschriftlichen Belegen für das Deutsche Volksliedarchiv große Lücken klafften. Die Suche nach evtl. noch vorhandenen Überlieferungssplittern führte nur begrenzt zum Erfolg. Lediglich ein kleines Restekonvolut von Abschriften davon (ca. 1000 Lieder, v.a. Tänze) konnte 2017 durch das Pommersche Landesmuseum gesichert werden.
Nach der Klärung der Bestandsgeschichte und der Durchführung der grundlegenden Ordnungsarbeiten soll nun der lange verschollen geglaubte und für die Forschung nicht verfügbare heute noch vorhandene Liedbestand des Pommerschen Volksliedarchivs in diesem digitalen Angebot virtuell zusammengeführt werden.
[1] Für einen knappen historischen Überblick mit der Angabe weiterführender Darstellungen und Studien vgl. Michael Fischer, Zum Geleit: 100 Jahre Deutsches Volksliedarchiv – Gründung des Zentrums für Populäre Kultur und Musik, in: Lied und populäre Kultur 59 (2014), S. 9-17.
[2] Die Sammlungsfortschritte und die einzelnen Umfragen zu Liedtypen sind in den Berichten über die Sammlung deutscher Volkslieder regelmäßig dokumentiert, die dem Volksliedausschuß des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde (Freiburg im Breisgau 1927-1938) erstattet wurden. Vgl. auch Werner Schwarz, Pommersche Musikgeschichte. Historischer Überblick und Lebensbilder, Teil 1 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V/21), Köln 1988, S. 266f.
[3] Einen zusammenfassenden Überblick über die Sammlungstätigkeit und die auswertenden Arbeiten bietet Christiane Birkholz, Zum Volkslied in Pommern, in: Baltische Studien N.F. 73 (1987), S. 113-126.
[4] Hans Engel, Franz M. Goebel, Pommersche Volksballaden, Leipzig [1932]. Schon zuvor hatte Alfred Haas, Pommersche Volkslieder mit Bildern und Weisen, Leipzig 1927, veröffentlicht.
[5] Paul Klein, Volkslied und Volkstanz in Pommern, Greifswald 1935.
[6] https://www.uni-greifswald.de/universitaet/einrichtungen/archiv/bestaende/digitales-archiv/pommersches-volkskundearchiv/
[7] Vgl. Tagungsbericht und Konferenzbroschüre unter https://www.pommersches-landesmuseum.de/de/kulturreferat-fuer-pommern/brauchtum.html
[8] Vgl. z.B. den Vortrag von Michael Werner, „Historisierung und Politisierung der Volksmusik im 19. Jahrhundert. Deutschland/Frankreich im Vergleich“ auf dem freien Symposion „Musikbegriffe zwischen Ethnographie und Geschichte: Deutsche und französische Perspektiven“ unter der Leitung von Talia Bachir-Loopuyt und Gesa zur Nieden auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung in Kassel 2017.